Wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas: Chancen und Risiken für Unternehmen

Nachhaltig „grüne“ Erholung in Lateinamerika? Commerzbank Insights sprach darüber mit Marcos Krepel, Senior Representative der Commerzbank in Argentinien

Mitte 2020 entwickelte sich Lateinamerika zum globalen Epizentrum des COVID-19-Ausbruchs. Die Länder der Region mussten schnell handeln, um die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise abzumildern. Einige Monate später sprach Insights mit Marcos Krepel, Senior Representative der Commerzbank in Argentinien, über den aktuellen Stand der Dinge. Zur Sprache kamen auch die Anstrengungen, einen Aufschwung mit möglichst „grünen“, sprich nachhaltigen Elementen einzuleiten.

Welche aktuellen Entwicklungen beobachten Sie vor Ort?

Marcos Krepel, Senior Representative, Commerzbank in Argentina
Marcos Krepel, Senior Representative, Commerzbank in Argentina

Marcos Krepel: Ähnlich wie in vielen anderen Regionen stehen auch die Länder Lateinamerikas noch unter dem starken Einfluss von COVID-19 und – als Folge von weniger restriktiven Lockdown-Bestimmungen und unterstützt durch die wärmere Jahreszeit in der südlichen Hemisphäre – in den Anfängen einer konjunkturellen Erholung. Die entschlossenen Unterstützungsprogramme der Regierungen und der Anstieg der Commodity-Preise, die noch immer rund 45 Prozent der lateinamerikanischen Exporte ausmachen, haben sich positiv auf die Stabilität der Finanzsysteme ausgewirkt und beflügeln nun die langsame Gesundung und den Aufstieg aus dem „Corona-Tal“. Allerdings gibt es deutliche regionale Unterschiede, die vor allem von den sehr unterschiedlichen Immunisierungskampagnen abhängen. In diesem Zusammenhang sehen wir Chile als Vorreiter und „Aushängeschild“ der Region, die sich grundsätzlich schwer tut beim schnellen Erreichen der Herdenimmunität.

Insgesamt war es beruhigend zu sehen, wie die Finanzsysteme in Lateinamerika mit den wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 fertig geworden sind. Natürlich haben Regierungen, Aufsichtsbehörden und Banken aus vergangenen Krisen gelernt, sodass sie seit dem Ausbruch der Krise für die Zahlungsfähigkeit und Liquidität der Wirtschaftsakteure inkl. der Banken gesorgt haben. Wie sich jetzt bereits zeigt, kann die Bedeutung eines gut funktionierenden Bankensystems als Katalysator für die nachhaltige wirtschaftliche Erholung in Lateinamerika nicht unterschätzt werden.

Wie haben sich die Handelsströme und das Kundenverhalten als Folge der Pandemie verändert?

Marcos Krepel: Natürlich wurde das Vertrauen in Partner und Märkte durch die Pandemie stark beeinträchtigt. Zum Glück hat sich der Handel wieder belebt und obwohl diese Erholung noch in den Anfängen steckt, deutet bisher kaum etwas auf eine Neuordnung der globalen Lieferketten hin.

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass die Belebung eher durch eine Normalisierung als durch dramatische Veränderungen erfolgt. So hat sich beispielsweise der Süd-Süd-Handelskorridor, der für Lateinamerika seit Langem von enormer Bedeutung ist, schneller als andere Handelsrouten erholt. China und seine Nachbarn gingen als erste in den Lockdown, und sie waren auch unter den ersten, die wieder öffneten. Für die Rohstoffexporteure Lateinamerikas war dies eine Initialzündung, die es ihnen ermöglichte, einen Teil ihrer Geschäfte schon früh wieder aufzunehmen.

Was das Verhalten unserer Kunden betrifft, so hat die Krise deren Risikobewusstsein deutlich erhöht. In einem derart unsicheren Umfeld ist es nur natürlich, dass Exporteure sicherstellen wollen, dass sie vertraglich vereinbarte Zahlungen rechtzeitig und in voller Höhe erhalten. So haben wir in der akuten Pandemie-Phase gesehen, wie sich Unternehmen vom Handel gegen offene Rechnung verabschiedeten und stattdessen risikomindernde Handelsfinanzierungsprodukte nutzen – beispielsweise Akkreditive, den Sicherheitsanker überhaupt in Krisenzeiten, und Garantien.

Wie hat die Commerzbank ihre Kunden in der Region während der Pandemie unterstützt?

Marcos Krepel: Als Lateinamerika in den Lockdown ging, verunsicherte der ebenso steile wie plötzliche Einbruch von Nachfrage und Produktion unsere Kunden. Viele Unternehmen baten ihre Bankpartner um Unterstützung bei der Bewältigung kurzfristiger Liquiditätsengpässe, bei der Aufrechterhaltung von Kreditlinien und beim Risikomanagement des Tagesgeschäfts inklusive der Handelsgeschäfte.

Mit unseren Lösungen in den Bereichen Zahlungsverkehr, Trade Finance und Hedging von Risiken bieten wir den Akteuren im lateinamerikanischen Handel eine wirkungsvolle Unterstützung. Das gilt insbesondere für Kunden, die aus bestimmten Ländern Zentralamerikas und der Andenregion kommen oder Geschäftspartner in diesen Ländern haben – also Länder, die bereits vor der Pandemie wirtschaftliche Schwächen zeigten.

Auch wenn sich das Geschäft infolge von COVID-19 sicherlich verlangsamt hat: Durch unsere langjährige Präsenz, das Aufrechterhalten von Kreditlinien und unsere Expertise sind wir in der gesamten Region gut positioniert, um unsere Kunden weiterhin zu unterstützen. Ohne Frage tragen unsere Repräsentanzen vor Ort in der Region gerade im derzeitigen unsicheren Umfeld entscheidend zu mehr Kundennähe und einer besseren Kenntnis der Märkte bei.

Was können Unternehmen erwarten, die mit der Region Geschäfte machen wollen?

Marcos Krepel: Schon jetzt belebt sich der Handel wieder– und dieser Prozess wird sich beschleunigen, sobald COVID-19 in der Region unter Kontrolle ist und die lateinamerikanischen Währungen weiter gegenüber dem US-Dollar an Wert gewinnen. Viel wird davon abhängen, ob Lateinamerika weitere „Corona-Wellen“ vermeiden kann und wie schnell die Herdenimmunität erreicht wird. Das globale Umfeld und die weltweite Liquidität stützen die Prognose einer weiteren Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen, die ihre Geschäftsbeziehungen mit Lateinamerika wieder ausbauen wollen.

Geprägt von den unterschiedlichen sanitären und wirtschaftlichen Maßnahmen werden sich Tempo und Ausmaß der wirtschaftlichen Erholung in der Region auch über 2021 hinaus noch erheblich unterscheiden. So haben zwar Chile und Peru stärker unter der Pandemie gelitten, verfügten jedoch über mehr fiskal- und geldpolitischen Spielraum, um Ausgleichsmaßnahmen zu finanzieren. Sie werden sich bereits 2021 gut erholen. Die vergleichsweise langsame Immunisierung der Bevölkerung in Argentinien, Brasilien, Mexiko und Kolumbien dürfte den wirtschaftlichen Erholungsprozess in diesen Ländern etwas in Schach halten.

Mit Blick auf die Zukunft sind alle Augen auf die Strategien zur Konsolidierung der Haushalte in den Ländern der Region gerichtet: Wie schaffen sie es, die notwendigen Ausgaben zu finanzieren, ohne dabei ihre Kreditwürdigkeit aufs Spiel zu setzen? Denn davon hängen in den kommenden Jahren sowohl das Vertrauen der Märkte als auch das wirtschaftliche Umfeld ab.

Trotz aller Herausforderungen verfügen die Länder der Region über ein großes wirtschaftliches Potenzial. Sobald COVID-19 abklingt und sich die Devisenmärkte weiter erholt haben, bietet selbst Argentinien, eines der schwächeren Länder in der Region, interessante Perspektiven in Sektoren wie Agrartechnologie, Öl und Gas, IT-Dienstleistungen und Nahrungsmittel. Dazu trägt auch die Regierung des Landes bei, die versucht, die Wirtschaft zu stabilisieren und die nationale Produktion anzukurbeln.

Überall in der Welt liegt der Fokus darauf, die angestrebte Erholung nachhaltig auszugestalten. Spielt aus Ihrer Sicht Nachhaltigkeit auch in Lateinamerika eine immer wichtigere Rolle?

Marcos Krepel: Auf jeden Fall. Nachhaltigkeit gewann schon vor der Pandemie an Bedeutung, und wir können davon ausgehen, dass sie ein wesentlicher Faktor bei der Erholung sein wird. Als Anbieter und Arrangeur von Unternehmensfinanzierungen und Risikokapital unterstützen viele Banken ihre Kunden beim Übergang zu nachhaltigeren Praktiken. Wir gehen davon aus, dass sich dieser Trend beim Aufschwung weiter verstärken wird.

Nachhaltige Finanzierungen werden in Lateinamerika weitgehend von multilateralen Banken angeboten. Sie vergeben in der Region nicht nur mittel- und langfristige Kredite, sondern stellen den Geschäftsbanken auch technisches sowie fachliches Wissen über grüne Finanzierungen zur Verfügung. So konnten wir bei einigen unserer Vorhaben einen besonderen Mehrwert dadurch schaffen, dass wir multilaterale Institutionen, die in der Region aktiv sind, eingebunden haben. In Argentinien hat die International Finance Corporation (IFC) in den letzten Jahren mehr als 2 Milliarden US-Dollar für nachhaltige Projekte im privaten Sektor bereitgestellt.

Seit Kurzem fließen nachhaltige Geschäftspraktiken auch verstärkt in die Risikosteuerung von Finanzinstitutionen ein: Sie bauen spezielle Ressourcen auf, um die Umweltauswirkungen von Projekten und Transaktionen zu bewerten. Ich habe keinen Zweifel, dass solche Überlegungen hier zunehmend an Bedeutung gewinnen, wenn die Region sich erholt und dann neue Unternehmen sowie Investoren aus aller Welt für sich gewinnen will.

Wo sieht die Commerzbank ihren Platz, wenn es um die Unterstützung künftiger Geschäftsaktivitäten von Unternehmen in der Region geht?

Marcos Krepel: Als eine der führenden Außenhandelsbanken der deutschen Exportwirtschaft unterstützen wir unsere Kunden in den wichtigsten Exportmärkten – das ist seit der Gründung der Commerzbank vor über 150 Jahren Teil unserer DNA. Lateinamerika bringt alles für einen wirtschaftlichen Aufschwung in den Jahren 2021–22 mit, wovon wiederum unsere Firmenkunden im In- und Ausland profitieren werden.

Unsere Rolle als erfahrener Bankpartner in der Region wird in den kommenden Monaten noch an Bedeutung gewinnen und das Vertrauen unserer Kunden weiter stärken. Wir waren schon lange vor der Corona-Pandemie hier, und wir werden noch hier sein, wenn COVID-19 bereits Geschichte ist – immer mit einem Ziel: für Firmenkunden, die ein wirtschaftliches Interesse an Lateinamerika haben, maßgeschneiderte Lösungen bereitzustellen.